Rituale, Reflexionen und Räumlichkeiten einer Premiere: Christian Grygas im Interview (Teil 2)

„Gleich am Anfang dieser Spielzeit freue ich mich auf den Buddy in FOLLIES.“ – das hat Christian Grygas, Ensemblemitglied der Staatsoperette Dresden, im ersten Teil des Interviews verkündet.

1991 wurde das Musical zum ersten und vorerst letzten Mal in Deutschland am Berliner Theater des Westens aufgeführt. Fast 30 Jahre später wird es nun von der Operette unter der Regie von Martin G. Berger wieder aufgenommen. An der Dramaturgie sind Heiko Cullmann und Kathrin Kondaurow beteiligt.

Heute, zum Premierentag des Sondheim-Musicals in Dresden werdet ihr erfahren, wie sich Christian auf so eine Premiere vorbereitet, was wir thematisch und musikalisch von „Follies“ erwarten dürfen und was es mit geheimen Videoaufnahmen auf sich hat.

Wer den ersten Teil des Interviews noch nicht gelesen hat, sollte das schleunigst tun, denn dort kann man Christian zunächst näher kennenlernen.

Bevor wir zur Inszenierung selbst kommen: FOLLIES ist die zweite Premiere der ersten Spielzeit unter neuer Leitung. Wie hast du denn den Wechsel der Intendanz wahrgenommen? Er wurde ja durch die Medien teilweise recht negativ dargestellt.

Vor allem die Sächsische Zeitung hat sich unglaublich auf Frau Kondaurow eingeschossen. Es hieß dort immer, die Belegschaft hätte Probleme mit ihr, was so nicht stimmte.

Natürlich bringt jede Veränderung Verunsicherung mit sich. Auch aus dem Orchester und dem Chor, denen beim Intendantenwechsel eigentlich nichts passiert, kamen durchaus kritische Stimmen. Aber für jemanden, der das komplette Ensemble bis auf zwei Sänger hätte entlassen können, gab es sehr wenige Änderungen.

Frau Kondaurow hat immer gesagt, sie wisse um das hiesige Publikum und um die großen Abostrukturen. Sie weiß selbst, dass sie es sich nicht leisten kann, diese Leute zu vergraulen. Sie möchte deutlich mehr Leute deiner Generation, aber auch, ich sage jetzt mal der Generation zwischen uns beiden in unsere Vorstellungen holen. Es stehen doch ganz viele mit 40 da oben auf der Bühne. Diese Generation ist aber nicht im Zuschauerraum vertreten. Das ist doch irritierend.

Als unterhaltendes Musiktheater sollten wir uns im Inszenierungsstil irgendwo zwischen Comödie und Schauspielhaus etablieren. Das hat in letzter Zeit mit den Musicals und Opern ganz gut funktioniert, von vielen Operetten war ich ein bisschen enttäuscht.
Ich will jetzt zwei Wochen vor der Premiere nicht zu viel sagen, aber mir gefällt FOLLIES. Ich glaube aber, dass es sich gerade bei den Operetten dieser Spielzeit zeigen wird, was für eine Staatsoperette Frau Kondaurow vor Augen hat. Mir ist wichtig, dass unser Inszenierungen intelligent und trotzdem lustig sind. Sie müssen unterhaltend sein, dafür sind wir da. Trotzdem darf man aber auch mal frech sein. Gutes Cabaret gibt es genug in Dresden, Operette war immer auch Satire.

Es ist ein Geschlechterwechsel an der Führungsspitze und ein ganz deutlicher Generationswechsel. Eigentlich würde man ja erwarten, dass jemand um die 50 nachfolgt. Diese Generation wird in Deutschland gerade ganz häufig bei den Intendantenposten ausgelassen. Das kann man schön finden oder auch nicht. Jemand der mit Mitte 30 und eine Frau ist, ist für so ein Theater aber schon interessant. Das ist ja auch eine ganz ganz große Chance.

Nach meinem Empfinden hat sich gerade die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem die mediale Präsenz seit dieser Spielzeit sehr verbessert.

Ja, die Präsentation nach außen ist nach meinem Geschmack deutlich besser. Diese Ästhetik entspricht mir sehr. Ich mag diese Art von Fotos, ich mag dieses Zitieren der Revueästhetik aus den 20ern. Das gefällt natürlich auch nicht jedem, aber man kann es sowieso nie allen recht machen. Wir haben diesen neuen Ort hier, dazu gibt es eine neue Ästhetik in der Darstellung. Man muss ihr auch ein bisschen Zeit geben. Sie muss ja ein paar Sachen ausprobieren und da auch Fehler machen dürfen. – Womit wir wieder beim Thema sind: Fehler müssen erlaubt sein, damit wir fähig sind zu lernen. Du kannst dich nicht immer in einem Hoffentlich-ist-das-richtig-Bereich aufhalten. Dann eierst du in diesem Bereich, der aber auch vollkommen langweilig ist. Theater ohne Risiko ist doch auch so lustlos. Ich finde, man sollte lieber grandios scheitern als egal, gelangweilt. Vor allem bei Theater. Nichts ist schlimmer als Theater zu erleben, das dich emotional nicht interessiert. Jeder große Theaterabend lässt mich lachen und weinen, da ist von allem etwas drin. Aber auf jeden Fall muss es mich emotional mitnehmen. Stücke, die mit den Zuschauern nichts machen, muss man nicht machen.

Nach unserem Interview geht es für dich gleich zur Probe. Wie muss man sich so einen typischen Probenprozess denn vorstellen?

Der Prozess der szenischen Proben dauert im Schnitt sechs Wochen und vorher proben wir schon musikalisch.

Am ersten Tag treffen wir uns alle zur Konzeptionsprobe, wo wir das Textbuch einmal von vorne bis hinten gemeinsam durchlesen. Meist sind auch der Chor und das Ballett dabei und der Regisseur präsentiert, wie er sich das Stück vorstellt. Wenn wir noch keine Anproben hatten, werden uns die Kostüme vorgestellt.

Zu Beginn der szenischen Proben singen wir einmal das ganze Stück mit Noten durch. Man muss noch nicht alle Songs auswendig können, ein paar aber schon, weil man im Anschluss gleich szenisch arbeitet. Gerade deine Soli solltest du vorher bereits gemacht haben. Das gilt besonders für die komplizierten Nummern, die ein bisschen Stimmakrobatik erfordern. Ein paar Überstunden für sich im stillen Kämmerlein braucht das schon.
Wenn wir richtig großes Glück haben, laufen die Proben chronologisch. Häufig geht das aber zum Beispiel wegen Urlauben oder Vorstellungsüberschneidungen nicht. Das heißt, du fängst mitunter am ersten Probentag mit dem zweiten Akt an. Dir wird dann erzählt, was vorher war, welchen Fahrplan der Regisseur ungefähr für deine Figur hat und in welcher Situation du dich befindest. Nach und nach setzt sich aber alles zusammen.

Zweieinhalb Wochen vor der Premiere kommt das Orchester dazu. Bei der Sitzprobe im Orchestersaal haben wir dann zum ersten Mal nicht nur das Klavier als Begleitung. Oft hört sich das dann sehr anders an, mitunter klingen die Einsätze sehr viel weicher und man muss darauf aufpassen, welches Instrument einem wann den richtigen Ton gibt.

Dann gehen wir auf die Bühne. Tendenziell starten wir mit einer Bühnen-Orchesterprobe, ohne Kostüm und Maske. Dabei machen wir die Wege auf der Bühne und achten darauf, dass wir überall genug vom Orchester hören. Bei akustischen Produktionen müssen wir außerdem darauf achten, den Kopf immer so zu halten, dass man es im Zuschauerraum auch hört. Bei Musicals wie FOLLIES ist das ziemlich egal. Da müssen wir eher schauen, dass wir den Dirigenten aus irgendeinem Augenwinkel sehen können.

Dann kommt irgendwann die Klavierhauptprobe, wo das Kostüm dazukommt und das Licht. Danach sind die Komplettproben an der Reihe, wo Orchester, Bühnenbild, Kostüme und Licht dabei sind. Zuletzt folgt natürlich die Generalprobe.

Wann fangt ihr mit der Choreographie an?

Acht Wochen vorher. Das muss ja ins Muskelgedächtnis. Choreografie und Worte sollten nach Möglichkeit irgendwann von selbst laufen. Je weniger Probleme du hast, dich daran zu erinnern, wie die Schritte und der Text sind, desto mehr kannst du das szenisch interpretieren. Das ist ja schließlich das, was die Leute wirklich interessiert. Sie wollen nicht sehen, ob du die Schritte kannst oder du damit Schwierigkeiten hast. Und sie wollen auch nicht, dass du den Text vergisst, sondern wollen erleben, was deine Figur mit dem Lied macht. Das sind so die kleinen Klippen des Berufes (lacht).

Habt ihr als Ensemble eigentlich irgendwelche Rituale vor Vorstellungen?

Als Ensemble leider nicht, das finde ich ein bisschen schade.
Ich kannte das aus freien Produktionen in Wien zum Beispiel, aber da waren wir alle Gäste. Das ist in so einem großen Theater schwierig, weil die Maskenzeiten gestaffelt sind.

Ich mag es ganz gern, eine Maskenzeit zu haben, die nicht zu spät ist. Meist mache ich meine Stimme vorher schon ein bisschen warm, kann sie noch einmal ausruhen und singe danach noch einmal.

Ich hatte tatsächlich viel mit dem Thema Auftrittsangst zu tun. Bei vielen geht das weg, sobald sie auf die Bühne treten. Das ist bei mir nicht so, sondern ich nehme das mit raus und vergesse mitunter die erste Zeile. Es ist viel besser geworden, seit ich direkt vorher noch mal in der Gasse stehe und eine Art Körper- beziehungsweise Atemübung mache. Das könnte man also als Ritual bezeichnen, aber ich mache diese Übung auch schon über den Tag verteilt.

Welche Themen liegen dir bei FOLLIES denn besonders am Herzen?

Es werden zwar keine thematischen Tabu-Brüche gemacht, dafür geht es aber viel um Erinnerungen von vor 30 Jahren.

Die Hauptrollen sind zwei Ehepaare, die sich vor dreißig Jahren im Theater in Leuben getroffen haben. Sally und Phyllis haben dort getanzt. Buddy und Ben waren in allen Vorstellungen und sind dann mit den beiden ausgegangen. Innerhalb dieser Konstellation hatten aber damals zwei Figuren ein Verhältnis miteinander und bisher wurde darüber nie wieder gesprochen. Seit dreißig Jahren ist dieses Thema also eine offene Wunde. An dem Abend, wo sie sich wiedertreffen, wird alles ausgepackt. Das heißt, es wird wirklich partnerschaftliche Wäsche gewaschen. Die eine Figur hat sich in ihrem Leben eingerichtet, die nächste trotz ihres Lebens, die eine hat ihre Jugend vergessen, die andere lebt immer noch als wäre sie 20. Es gibt viele in Leuben gefilmte Rückblenden, geheim, wie die MOPO schrieb. Manche Rückblenden werden aber auch auf der Bühne imaginiert.

Das Ganze kulminiert in einem Treffen der zwei Paare mit ihren vergangenen Ichs, die durch eigene Darsteller verkörpert werden. In einer Konfrontationsszene mache ich meinem jüngeren Ich zum Beispiel tierische Vorwürfe, sich für diese Frau entschieden zu haben.

Dein jüngeres Ich wird von Gero Wendorff gespielt.

Ja genau. Ich laufe Richtung Gero und schreie ihn an: Du wusstest doch, dass du betrogen wurdest, wie konntest du diese Frau heiraten? Das hört er natürlich nicht richtig, weil er in seiner eigenen Welt ist. Dieses ehrliche Spiel mag ich aber sehr.

Während der Proben habe ich an meinen jüngeren Kollegen gemerkt, dass Menschen um die 20 schon ganz anders über den Sinn des Lebens nachdenken. In diesem Alter habe ich nur versucht zu überleben, Geld zu verdienen, einen Job zu finden, der mir gefällt und unbeschadet aus der Armee zu kommen. Ich habe mich überhaupt nicht für Umwelt interessiert. Gar nicht. Ich finde es total gut, dass das jetzt anders ist.
Mit den Reflexionen, die wir mit 50 machen, wird eure Generation jetzt schon groß.
Im Stück kann man den jungen Ichs zuschauen, wie sie auf Grund von man-macht-das-so oder das ist so normal oder ich-bin-ehrgeizig-und-möchte-nur-Geld-verdienen ihre Entscheidungen treffen. Wohin das geführt hat, sieht man aber auch.

Ich glaube, das ist total interessant für Leute, die jetzt gerade selbst Lebensentscheidungen treffen. Gleichzeitig gilt das bestimmt auch für Leute, die damit beschäftigt sind, ihr Leben zu reflektieren und eben zu erfahren, wie andere das tun.

Der dramatische Höhepunkt an diesem Abend ist die Feststellung der beiden Paare: So geht es nicht weiter. Wie kommt man da jetzt wieder raus? Diese Frage wird zwar nicht ganz eindeutig beantwortet, zum Schluss ist man aber auch nicht völlig hilflos. Es ist so ein bisschen wie bei COSÌ FAN TUTTE, wo du nicht weißt, was die Figuren danach machen. Du weißt aber, sie machen etwas. Und diese Reflexionsebene finde ich neben Glamour und Megabühne sehr interessant.

Und musikalisch?

Es gibt viele Revuenummern. Sondheim zitiert darin viele musikalische Stile anderer Komponisten. Dadurch gibt es Revuenummern, die nach Cole Porter klingen, die nächsten wiederum nach Johann Strauß. Es wird ziemlich klar, aus welchen Zeiten sie im Stück ungefähr kommen, weil es musikalisch wirklich hochwertige Zitate sind. Teilweise denkt man, es sei nicht von Sondheim, er ist ein richtig guter Komponist. Und zwischendurch hört man eine ganz moderne Sondheimmusik, die ich total charmant finde.

Das ist das, was das ganze Stück auch musikalisch nochmal abwechslungsreicher macht.

Christian Grygas als Buddy und die Herren des Balletts der Staatsoperette (Foto: Vincent Stefan)

Welche Besonderheiten bringt es denn mit sich, ein Stück aufzuführen, das fast dreißig Jahre lang nicht gespielt wurde?

Viele. Eine Besonderheit ist, dass es in Deutschland bisher nur das eine Mal gemacht wurde und wir den Text komplett verändert haben. Wir haben das Stück ja auf unsere Situation speziell angepasst. Ich spiele einen 50-Jährigen und bin selber gleich alt. Zur Wende war ich 20 und musste mich jetzt noch einmal damit auseinandersetzen, wie sich das damals angefühlt hat. Ich hatte insofern Glück, dass ich noch im Dezember ’89 angefangen habe, am Theater zu arbeiten. Dadurch habe ich die letzten DDR-Theater-Ausläufer gerade noch kennengelernt.

Im englischsprachigen Raum wird das Stück viel aufgeführt. Dort wird es aber immer in der Originalzeit des Stücks, den 70ern belassen und sich an die Zeit vor dem Krieg erinnert. Wenn Deutsche sich aber an den Zweiten Weltkrieg erinnern, tun sie das anders als Engländer oder Amerikaner.

Insofern finde ich es eine gute Idee, den Stoff auf das heutige Dresden zu beziehen.

Ja, das finde ich auch. Vor allem zeitlich. Sonst müsste man das Stück entweder in der DDR oder doch in Amerika spielen lassen. Ich als gelernter Ossi würde dann einen New Yorker spielen, der aus amerikanischer Sicht auf den Zweiten Weltkrieg schaut. Das geht schon irgendwie, dafür haben wir ja Probenzeit. Die Verbindung der Zuschauer zu den Figuren wäre dann aber schwieriger. Deswegen finde ich es sehr sehr klug, das Ganze in Dresden zu lassen und die Wende als Bruch in den Biografien zu nutzen.

Ist bei dir ein bisschen Nostalgie aufgekommen als ihr für die Videosequenzen in der alten Spielstätte in Leuben wart?

Das war schon eine coole Zeit im alten Haus. Ich glaube, ich bin jemand mit etwas weniger Nostalgie. Es gibt auch Kollegen, die noch nostalgischer als ich waren. Das, was ich tatsächlich am meisten vermisse, ist der Backstagebereich, den wir für Premierenpartys hatten. Im neuen Haus sind wir immer im Foyer, wo wir natürlich schön viel Platz haben. Da war man in Leuben einfach näher beieinander. In der Kantine wurde gegessen und getrunken, im Ballettsaal wurde getanzt. Und dann bist du raus auf die Terrasse gegangen, hast dort gequalmt, weiter getrunken und erzählt. Das waren drei Plätze die direkt nebeneinander waren. Jetzt ist das alles doppelt so weit auseinander.

In diesem Sinne: Toi toi toi für alle Mitwirkenden für eine gelungene Premiere und im Anschluss eine legendäre Party (trotz weitläufigerem Ambiente)!

Wer Christian auch mal live erleben möchte oder wen das Interesse für „Follies-Schatten und Glanz einer Revue gepackt hat, findet weitere Informationen und Karten unter: https://www.staatsoperette.de/spielplan/a-z/follies/

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