Wer eine Vorstellung der Dresdner Staatsoperette besucht, kommt kaum an ihm vorbei: Der Schweriner Bariton Christian Grygas ist aktuell an acht Produktionen im Kraftwerk beteiligt. Dazu zählt auch Sondheims Musical „Follies“, wo er ab nächsten Samstag eine der männlichen Hauptpartien darbieten wird.
Seit 2005 ist er Solist am Haus und kann auf entsprechend viele Erfahrungen an der Operette zurückblicken. Die herannahende Premiere des Sondheim-Stückes war ein hervorragender Anlass, den Sänger, Tänzer und Schauspieler auf ein Interview zu treffen.
Der erste von zwei Interviewteilen dreht sich aber zunächst um seinen Weg vom Beleuchter zum Sänger, der nicht immer geradlinig verlief. Außerdem könnt ihr euch auf diverse Hintergrundberichte aus Christians Leben und dem Backstagebereich der Staatsoperette freuen.
Wie bist du denn zum Singen und Performen gekommen? Klar, du warst Beleuchter, aber du musst ja auch schon vorher in diese Richtung interessiert gewesen sein oder?
Ganz wenig lustigerweise. Ich habe zu DDR-Zeiten eine Ausbildung zum Facharbeiter für BMSR-Technik gemacht. Zu meinem großen Glück war da so ein bisschen Schlosserei, Automatisierungstechnik, Umgang mit Messgeräten und Strom bis 220V und Metallbearbeitung dabei. Schon während der Ausbildung und bevor ich im Mai ’88 zur Armee musste, habe ich jedoch gezweifelt, ob das mein Beruf für die Ewigkeit ist. Während meiner Armeezeit bis November ’89 merkte ich schon, dass ich eigentlich keine Lust hatte, in den Industriebetrieb zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt war ja aber noch nicht ganz klar, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde. Und dann habe ich mir gedacht: Vielleicht liegt dir die künstlerische Richtung ja. Ich war wirklich richtig naiv, was das betraf.
Das muss man vielleicht manchmal sein.
Ja, total. Wenn ich nicht im Theater zugeschaut und gedacht hätte: Es ist bestimmt interessant, das zu machen, wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Nach der Armee habe ich mir jedenfalls einen anderen Job gesucht. Am Schweriner Theater suchten sie gerade Beleuchter und da ich Elektrik in der Ausbildung hatte, habe ich den Job bekommen. Damals war Beleuchter noch ein Anlernberuf, heute ist das ein Ausbildungsberuf als Veranstaltungstechniker.
Das hat sich natürlich gut getroffen.
Ja, dann habe ich Theater überhaupt erst mal so richtig kennengelernt. Ich war zwar mit der Schule ein paarmal im Theater, aber ich muss gestehen, dass ich von den Sachen nicht so überzeugt war. Das allein hat jedenfalls nicht als Initialzündung ausgereicht. Das Arbeiten im Theaterbetrieb aber schon. Ich habe begonnen, mich bei Kollegen durchzufragen und bin schließlich zum Ballett, Gesang, Klavierspielen und Schauspielen gekommen.
Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt?
Ungefähr 21. In dem Alter habe ich auch erst richtig mit Singen angefangen. Als ich vierundzwanzig war, hat mich die Stage School in Hamburg genommen. Ich merkte aber nach zwei Jahren, dass ich zu wenig Vorbildung hatte, um Hauptrollen zu spielen. Zudem habe ich verhältnismäßig spät angefangen. Das betraf vor allem das Tanzen und für das Schauspiel war ich nicht verrückt genug. Dafür mochten alle meine Stimme, weshalb ich dann an der Musikhochschule in Lübeck sechs Jahre Operngesang studiert habe. Ich selbst fand meine Stimme immer nie besonders. Meine Stimme ist eben, wie sie ist. Ich habe mir vorgenommen, weiterzumachen, solange den Leuten meine Stimme gefällt. Das ist bis heute toi toi toi so. Ich kann es aber immer noch nicht in Relation setzen, ob meine Stimme so viel schöner ist, als die von anderen. Das ist ja auch immer Geschmackssache. Mittlerweile kann ich aber einschätzen, ob ich für meine Verhältnisse gut bin oder nicht. Und die Tage, an denen ich für meine Verhältnisse gut bin, überwiegen. Der Spaß an der ganzen Sache ist wichtig und gibt auch immer ein bisschen Ruhe. Zweifel sind gesund, aber zu viele Zweifel lassen einen verzweifeln. Dann sollte man aufhören.
Bist du seit deiner Sängerkarriere trotzdem auch mal wieder als Beleuchter eingesprungen?
Nein. Dafür sitze ich in der Kantine aber gern mit den technischen Bereichen zusammen. Vor allem werde ich von der Beleuchtung immer ein bisschen geneckt, so nach dem Motto: Der Grygas, der weiß, wo das Licht ist, der geht da immer rein! Als ehemaliger Beleuchter weiß ich eben: Nur wenn man geblendet wird, hat man auch Licht im Gesicht.
Das letzte Mal als Beleuchter habe ich an der Musikhochschule noch während meines Studiums gearbeitet, weil ich nebenbei immer Geld verdienen musste.
Inzwischen hat sich die Scheinwerfergeneration komplett geändert. Ich würde es mir zwar immer noch zutrauen, den Verfolger zu fahren, dafür braucht man aber keine ganze Stelle.
Außerdem hast du jetzt schon seit 14 Jahren eine Festanstellung im Solistenensemble der Staatsoperette. Was hat dich über all die Jahre in Dresden gehalten?
Die Operette ist für mich ein toller Arbeitgeber. Mir gefällt die Gewichtung, dass wir ein bis zwei Musicals und zwei klassische Stücke im Jahr haben. So kann ich die verschiedenen Sounds, die ich in Hamburg und Lübeck gelernt habe, von Mozart über Cole Porter bis Frank Nimsgern auch bedienen.
Für mich war es immer ein zu über 75 Prozent guter Spielplan. Natürlich gab es trotzdem auch Dinge, die ich gemacht habe, weil ich festangestellt bin. Hin und wieder habe ich mich in der Operette auch eingesperrt gefühlt, weil ich dachte, alles sei fremdbestimmt und ich könne gar nichts mehr selbst entscheiden. Allerdings macht man als Freiberufler vieles auch nur, weil man essen muss. Das ist bei der Festanstellung genauso, außer, dass man sich an seinen jeweiligen Chef gewöhnt.
Außerdem hatte ich in jeder Spielzeit immer mindestens eine Rolle, die so richtig toll war. Das hat mit Billy in ANYTHING GOES gestartet und irgendwann kam Anatoly in CHESS.
Letzte Spielzeit war das auch der Fall. Als Barkilphedro im MANN MIT DEM LACHEN konnte ich den bürokratischen Bösewicht spielen, der dann irgendwann total ausflippt.
Bei ONE TOUCH OF VENUS liegt mir dagegen die Weill-Musik sehr. Da funktioniert meine Stimme einfach wie von allein.
Gleich am Anfang dieser Spielzeit freue ich mich auf den Buddy in FOLLIES. Ich bin also vor allem so lange an der Operette geblieben, weil es immer so viele verschiedene Rollen gab.
Zudem haben viele meiner Rollen mir etwas für das Leben beigebracht. Wir spielen ja bestimmte Situationen durch, sie passieren aber immer in einem geschützten Rahmen. Die Konsequenzen sind abgesprochen. Egal, ob ich mich in den oder die Falsche verliebe oder egal, ob wir uns auf der Bühne fetzen, nach der Probe ist alles wieder gut. Das ist anders als im Leben. Man muss aber in der Szene emotional mitgehen. Wenn ich mich auf der Bühne z.B. glaubwürdig streiten möchte, muss ein Teil von mir schon dabei sein. Dadurch lerne ich meine eigenen Grenzen kennen und merke, wann mich so eine emotionale Szene zu weit mitreißt. Das ist tatsächlich – so komisch es klingt – vergleichbar mit echtem Leben.

(Foto: Stephan Floß)
Kannst du noch näher auf eine Rolle eingehen, die dich inspiriert hat?
Die Zaza in LA CAGE AUX FOLLES war zum Beispiel die erste Frauenrolle, die ich gespielt habe. Sie ist ja eigentlich ein Mann, aber doch auch irgendwie eine Frau, ein Travestiekünstler. Trotzdem übernimmt Zaza eindeutig den weiblichen Teil in der homosexuellen Beziehung auch, wenn diese Rollenverteilung natürlich ein Klischee ist.
Durch das Stück habe ich viel über das Gendern und das Auseinanderhalten von Travestie, Transvestitismus und all den anderen Trans-Spielarten gelernt. Selbst für mich als Beteiligten ist das fast schon unübersichtlich!
Ich selbst finde den Ausdruck queer am allerbesten, weil er für alles gilt. Queer ist ja auch ein bisschen schräg, also einfach etwas Besonderes. Meine Schwester hat mal zu mir gesagt: Als du dich geoutet hast, dachte ich, es passt total gut zu dir. Du warst immer etwas Besonderes in der Familie. Ich finde es total schön, etwas Besonderes zu sein. Natürlich kann jeder selbst schauen, ob er in so einem queeren Spektrum normal sein will, wenn er das möchte. Ich persönlich muss nicht soo normal sein, ich bin dafür ja in vielen anderen Sachen total durchschnittlich. Ich glaube, dass das Prinzip mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner nicht gesund ist. Wir sollten uns auf ein bisschen Raum einigen: Lasst uns mal so sein wie wir sind, solange wir uns nicht gegenseitig wehtun, denn da ist die Grenze.
Cole Porter hat zum Beispiel in den 20er Jahren gelebt, war homosexuell, hat aber eine Frau geheiratet. Das machen heute auch noch ganz viele. Ich finde das auch total legitim. Wer bin ich zu sagen: Du bist doch aber eigentlich zu 80 Prozent schwul? Wenn die Gesellschaft dir eine bestimmte Entscheidung aufzwingt und es für dich richtig ist, dem zu folgen, dann folge dem. Wenn du dich selber nicht freischwimmen kannst oder willst, dann lass es. Du wirst schon selber merken, ob du damit leben kannst oder nicht. Und wenn du damit nicht mehr leben kannst, dann musst du etwas ändern. Du wirst aber nie die anderen ändern, sondern du kannst dich nur fragen: Möchte ich so leben? Halte ich das für die Kinder, die Eltern aus oder nicht? Ich war gegen Ende der Armee-Zeit, an dem Punkt, wo ich mich entscheiden musste, ob ich weiterlebe oder nicht. Das war wirklich eine schwere Zeit. Ich habe mich damals aber für das Überleben entschieden und bin zum Arzt gegangen. Nach meiner Erfahrung glaube ich, dass es diese Möglichkeit immer gibt. Ob man sie in dem Augenblick sieht oder nicht, steht auf einem anderen Blatt.
Ich hoffe aber, dass trotzdem jeder diesen Ausweg finden kann. Ich hatte noch das Glück, ins Theater zu kommen, wo sowieso jeder auf der Suche nach sich selbst ist. Das war für mich mit 20 notwendig und richtig. Dort konnte ich ziemlich unbewertet alles entdecken, was zu mir gehört.
Am Theater gibt es da ja sowieso eine größere Offenheit oder?
Verhältnismäßig, ja. Wenn man nicht dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen entsprechen möchte, sondern sich ein bisschen verrückt davon bewegen möchte, muss man aber damit rechnen, dass es immer jemanden gibt, den das stört.
Ein anderes großes kritisches Thema, das auch ganz gern an den Dienststrukturen am Theater gespiegelt wird, sind Fehler. Jede Vorstellung soll so perfekt wie möglich sein. Trotzdem passieren sie in jeder Vorstellung. Ich sehne mich nicht danach, Fehler zu machen, aber ich musste irgendwann lernen, mir das zu erlauben. Egal, wie gut man etwas geprobt hat, es gibt immer verschiedene Umstände. Manchmal ist man zum Beispiel total aufgeregt oder in den Proben für ein anderes schweres Stück.
Das war letzte Spielzeit einmal so. Da haben wir gerade für den MANN MIT DEM LACHEN geprobt. Abends stand ich plötzlich als Pickering in MY FAIR LADY auf der Bühne und habe mich gefragt: Haben wir diese Szene schon gespielt oder kommt die jetzt noch?
Das passiert und kann auch Spaß machen. Meistens tut es das in dem Augenblick nicht. Im Nachhinein ist es meist nicht so schlimm, weil die Zuschauer ganz gern über solche Fehler schmunzeln.
Über welche Bühnenpanne musstest du selbst denn in den letzten Jahren am meisten schmunzeln?
Das war bei ZZAUN. Da hatte ich ein Lied auf der Pasarella, wo ich den totalen Machotypen abgebe. Die beiden Strophen ähneln sich allerdings sehr. Etwa nach der zehnten Vorstellung fühlte ich mich relativ sicher und konnte sie auseinanderhalten. Einmal habe ich aber durch das Publikum geschaut und eine Dame angesungen. Sie hat eiskalt zu mir hoch geblickt und mir zugezwinkert. Ich war sofort raus und war wieder in der ersten Strophe. Nach dem Lied bin ich von der Bühne gegangen und habe erst mal richtig gelacht!
Also bekommt ihr die Reaktionen der Zuschauer schon mit.
Naja, ein bisschen. Nicht Vieles, aber wenn man direkt vorn ist, sieht man die ersten beiden Reihen. Ich muss da gerade direkt an die ZAUBERFLÖTE denken. Da sitze ich als Papageno in einer Szene auf der Pasarella und lasse barfuß meine Füße baumeln. Da passiert es oft, dass eine ältere Dame versucht, mich an den Fußsohlen zu kitzeln oder mich am großen Zeh zu ziehen.
Ganz allgemein bekommen wir es hier im Kraftwerk aber auch in anderen Szenen viel besser mit, wie die Leute reagieren. Das war in Leuben immer schwierig, weil die andere Richtung für uns kaum zu hören war.
Aber findet ihr es eher positiv oder nervt es euch, wenn das Publikum zwischendurch etwas einwirft?
Es ist viel besser, wenn das Publikum Reaktionen zeigt. Als Darsteller ist man ja auch ein bisschen eitel und freut sich über Beifall. Wenn es den Leuten gefällt, muss man eben das Stück auch mal kurz unterbrechen. Das ist wie in der alten italienischen Oper. Bei den Premieren von Verdi war es nicht so unüblich, dass der Tenor die Arie drei mal singen musste.
Die Dresdner sind dagegen manchmal so höflich! Gerade, wenn man unterhaltendes Theater macht, ist es doch schön, das Publikum lachen zu hören. Wenn die Szene lustig ist, lacht! Wir spielen damit, nehmen das auf und reden in der Regel auch erst weiter, wenn ihr fertig seid. Nichts ist schlimmer, als nach einem Gag vergeblich auf den Lacher warten zu müssen. Manchmal verhaut man den Gag natürlich auch selbst.
Was das Timing angeht zum Beispiel?
Ja, genau. Manchmal kann ich aber gar nicht so genau den Daumen darauf halten, aber da weiß ich: Den hast du versemmelt, das wird nichts, den kriegst du auch nicht mehr hin. Und dann lacht natürlich auch keiner.
In welchem Kostüm siehst du dich denn am liebsten?
Im Grunde ist mir das tatsächlich fast egal. Ich mag es, wenn die Schuhe nicht zu hart sind. Ganz harte Sohlen sind auch so laut auf der Bühne.
Ich mag alles, was um den Bauch ein bisschen verspielt ist. Mir gefällt zum Beispiel dieses Halbbarocke, das ich beim MANN MIT DEM LACHEN anhabe. Das ist auch so schön charmant altmodisch. Im Musical ist es gerade gefragt, wahnsinnig dünn zu sein. Eigentlich ist es aber nicht gut für das Singen, den Bauch so sehr zu trainieren. Gleich gar nicht, wenn man auch mal klassisch und ohne Mikrofon singen möchte. Die Bauchdecke muss viel arbeiten dürfen. Deswegen trage ich zum Beispiel so gerne Westen. Darunter kann ich atmen, wie ich will.
Trotzdem habe ich sogar mit der Korsage, die ich zum Beispiel als Zaza tragen musste, meinen Frieden gemacht. Die hat mir den ganzen Zwerchfellbereich einklemmt. Deswegen musste ich noch mal mehr darauf achten, dass ich in den Beckenboden atme, um meine Stimme nicht zu belasten.
Was ist denn deine Lieblingsbeschäftigung, wenn du während der Aufführung Backstage gerade nicht das Kostüm wechselst oder über eine Bühnenpanne lachst?
Ich mag es sehr, meinen Kollegen zuzuhören. Dadurch bleibe ich auch selbst in der Stimmung des Stückes. Im Kraftwerk sind die Wege auch unglaublich weit und wenn die Feuerschutztüren zugehen, hört man nichts mehr von der Bühne. Das heißt, ich bleibe meist auf der Seitenbühne. In fast allen Stücken sind meine Auftritte auch so verteilt, dass ich nicht sonderlich lange warten muss. Meinen Kollegen beim Arbeiten zuzusehen, finde ich toll.
Tatsächlich liegen nicht nur Christians Auftritte nah beieinander. Auch der zweite Teil dieses Interviews wird in Kürze erscheinen. Darin wird Christian spannende Einblicke in die „Follies“-Inszenierung und deren Probenablauf geben.
Sehr schön tiefsinnig! Ich freue mich schon, gleich den zweiten Teil lesen zu dürfen! Lieben Gruß! 🏳️🌈
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