Fernweh? Eine Dosis Operette kann helfen

„Ich hab‘ noch einen Koffer in… – Ein Operettenspaziergang von Wien bis New York.“, heißt das neue Wunderheilmittel, das man als Antwort auf die Corona-Reisewarnung in der Dresdner Staatsoperette erwerben kann.
Die Einnahme gestaltet sich simpel. Zur Verabreichung muss man sich zum vorher vereinbarten Termin maskiert im Foyer des Gebäudes einfinden. Danach gilt es, den Beipackzettel mit Lageplan zu studieren. Darin wird ersichtlich, wie und in welcher Abfolge die therapeutischen Stationen gegen die kaum noch zu ertragende Sehnsucht nach der weiten Welt angesteuert werden.
Mit anderen Patient*innen, die ebenfalls an Fernweh oder aber an Musik- und/oder Theater-Entzug leiden, wird man in „Reisegruppen“ von etwa 25 Personen eingeteilt und „bereist“ fünf verschiedene Städte an einem Abend. Ein*e „Reiseleiter*in sorgt dabei für die Einhaltung der Rahmenbedingungen zur Einnahme und weiß kleinere Programmverzögerungen geschickt zu überbrücken.

Nun aber zunächst genug vom Mediziner*innensprech. Damit sich die Wirkung der Arznei voll entfalten kann, muss man ausblenden, dass man sich gerade in einer Behandlung befindet. In diesem Sinne also: Maske auf und Abflug nach New York City!

Kaum hat die Reisegruppe in der Metropole Platz genommen und sich der Mund-Nasen-Bedeckung entledigt, beschweren sich vor der Performance auch schon die Ersten über den Verkehrslärm. Gleichwohl ist die US-amerikanische Stadt doch für ihre Rush-Hour bekannt. Insofern sorgt die von der Könneritzstraße herüberschallende Geräuschkulisse wohl eher für zusätzliches Metropolen-Flair. Das Bühnenbild passt mit der rostigen Fassade des Kraftwerkgebäudes, einem Basketballkorb und Fässern ausgezeichnet zum Setting der New Yorker Vororte, wie man sie aus der West Side Story – Verfilmung kennt.
Mit Beginn der Ouvertüre von Bernsteins Musical zeigt sich, dass die anfänglichen Sorgen des Publikums unbegründet waren. Die über Lautsprecher eingespielte Musik schafft es locker, das Brummen der Straße zu übertönen.
Timo Schabel und Annika Gerhards singen Tonys und Marias Partien und die Melodien von Gershwin technisch hervorragend, wirken interpretatorisch aber eher zurückhaltend. Umso mehr wird man von der Spielfreude des kleinen Ballett-Ensembles mitgerissen.

Die nächste Reise-Etappe führt die Zuschauer*innen nach Dresden, das sich mit Minibar in lauschiger Atmosphäre an der Laderampe präsentiert. Auf die Idee, diesen Ort so in Szene zu setzen, muss man erstmal kommen. Die Reisenden werden von Marcus Günzel und Silke Richter empfangen, die ihrerseits auf eine Zeitreise in die DDR einladen. Musikalisch wird dieser Ausflug durch damalige Gassenhauer mit der Begleitung von Eve-Riina Rannik (Klavier) und Michael Hauser (Bass/ Gitarre) unterlegt. Dazu gehören beispielsweise Melodien aus Gerd Natschinskis Musical „Mein Freund Bunbury“, die durchaus auch bei Millennials im Ohr bleiben.
Besonders gewinnt diese Station aber durch den souveränen und authentischen Auftritt der beiden Sänger*innen, die an Lässigkeit kaum zu übertrumpfen sind.

Performance auf der Laderampe. Foto: Stephan Floß

Nachdem sich der kreativ gewählte „Vorhang“ in Dresden wieder gesenkt hat, führt die Reise zu Deutschlands Hauptstadt. Hier entführen Bryan Rothfuss, Elmar Andree und Mitglieder des Chors, begleitet von Robin Portune (Klavier), Clemens Amme (Drums) und Maro Chacon (Bass) mit Klassikern wie „Ein Lied geht um die Welt“ sehr charmant in die Welt des Berlins der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Als dieser Heißluftballon zu Beginn der Berliner Darbietung über die Operette schwebt, unterbricht Bryan Rothfuss die Anmoderation kurz mit den Worten: „Jetzt müssen wir uns erstmal den schönen Ballon anschauen, das erlebt man ja auch nicht alle Tage!“ – Die Magie des Open-Airs.

Nach diesen drei Spielorten unter freiem Himmel führt die Route für die zwei verbleibenden Reiseziele durch die Hintertür ins Gebäude der Staatsoperette.
In Wien wird man auf der Hinterbühne der Staatsoperette von Christian Garbosnik, dem Dirigenten, höchstpersönlich begrüßt und heißt ihn und das Salonorchester im nächsten Moment noch einmal mit einem gebührenden Applaus willkommen. Christian Grygas und Steffi Lehmann brillieren bei ihrer Darbietung von Arien aus „Der Zarewitsch“ und „Die Czárdásfürstin“, präsentieren aber auch unbekanntere Lieder. Dazu gehört beispielsweise das Zigarettenlied aus „Der Orlow“ von Bruno Granichstaedten. Gepaart mit den eingesetzten Requisiten von Kronenleuchter bis Schwan, ist Wien die Station der opulenten Operettenmomente, die viele wohl als erstes mit diesem Genre in Verbindung bringen.

„Ganz Paris träumt von der Liebe“, singen Laila Salome Fischer und Nikolaus Nitzsche mit der Begleitung von Natalia Petrowski (Klavier) und Alexander Berstsky (Violine) im Pariser Kranfoyer der Staatsoperette. Die Mezzosopranistin gibt sich als die unnahbare Pariserin, während der Bariton im Tango-Schritt mit Mindestabstand versucht, ihr Herz zu erobern.
Und so klingt der Abend (jedenfalls für meine Reisegruppe) in der Stadt der Liebe aus.

Apropos Reisegruppe: Mit dem Blick auf das Publikum fällt auf, dass der Altersdurchschnitt recht hoch ist. Gut möglich, dass die so schon oft als angestaubt wahrgenommene Operette in Kombination mit dem Wort „Spaziergang“ auf sonst eigentlich reisewütiges jüngeres Publikum eine zunächst abschreckende Wirkung hat. Das ist angesichts der Vielfalt und kreativen Gestaltung der Stationen schade. Vielleicht setzt das Haus in der Krise aber erstmal ganz bewusst auf das Stammpublikum, bevor es in Zukunft wieder neue und vor allem jüngere Besucher*innen ins Visier nimmt.
Auch unabhängig von der Ansprache dieser Zielgruppe kommt der Titel „Ich hab‘ noch einen Koffer in…“ recht sperrig daher, zumal sich bei aller Phantasie nicht erschließt, wie man in fünf auf der Welt verstreuten Städten das Reisegepäck vergessen haben kann.

Das Format an sich bürgt aber großes Potenzial. Wer weiß, vielleicht wird dieses aus der Not entstandene Modell die Corona-Zeit überdauern. Der aufwendig angelegte Spaziergang macht Lust auf weitere musikalische Open-Air-Momente auf dem Kraftwerksgelände. Ob die Staatsoperette dieser Nebenwirkung ihres Anti-Fernweh-Heilmittels nachkommen wird?

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