Von Angesicht zu Angesicht im Neonröhrenlicht

Man könnte meinen, die gerade zunehmend an Popularität gewinnenden „1to1 Concerts“ sind ein weiteres aus der aktuellen Situation entstandenes Modell. Wie der Name schon verrät, befinden sich bei dieser Konzertform nur zwei Personen im Raum: ein*e Zuhörer*in und ein*e Musiker*in, die für diese Person zehn Minuten spielt. An dieser Stelle ist es vermutlich überflüssig, zu erwähnen, dass sich dieses Format sehr gut mit den Corona-Schutzregeln vereinbaren lässt. Entwickelt wurde diese Art des Konzerterlebnisses jedoch schon im letzten Jahr für die „Sommerkonzerte Volkenroda“, die wiederum von der Perfomance „The Artist is present“ von Marina Abromović im Museum of Modern Art inspiriert wurde (hier geht’s zum Link des Trailers der zugehörigen Dokumentation).
Der Clou an den 1:1-Konzerten ist, dass die Besucher*innen vorher weder wissen, wem sie gegenüber sitzen werden, noch welches Instrument die Person spielen wird. Außerdem soll ein besonderer Reiz darin liegen, nicht miteinander zu sprechen, sondern zu Beginn des Konzerts über mehrere Sekunden Blickkontakt zu halten.
Noch mehr Einmaligkeitscharakter erhält dieses Erlebnis durch die außergewöhnlichen Spielorte: In Leipzig sind das beispielsweise das Schumannhaus, das Kunstkraftwerk Lindenau und das Deutsche Musikarchiv. In Dresden finden Konzerte u.a. im Plenarsaal des Rathauses, in der Villa Wigman und – dafür habe ich mich entschieden – auf der Beleuchterbrücke im Kulturpalast statt.
Man sollte aber nicht vergessen, dass das Projekt den Musiker*innen auch eine Bühne geben soll, um auf ihre schwierige Lage aufmerksam machen zu können. Deshalb haben die Zuhörer*innen – nach dem zunächst kostenlosen Konzert – die Möglichkeit, mit einer Spende an den Nothilfefond der Deutschen Orchesterstiftung freischaffende Musiker*innen zu unterstützen. Auch an den Förderverein des Heinrich-Schütz-Konservatoriums Dresden kann man spenden, um dessen Honorarkräfte zu unterstützen.

Zugegeben, vor der Ticketreservierung kamen mir diverse Fragen und Gedanken in den Sinn. Selbstverständlich allen voran: Wer wird mir mit welchem Instrument gegenüber sitzen? Wird der/ die Musiker*in auf mich warten oder nehme ich zuerst Platz? Empfange ich die Person dann mit Applaus? Oder soll man gar nicht applaudieren?
Hier ist es wichtig, zu erwähnen, dass ich eine Person bin, die sehr gern und zuweilen auch überschwänglich applaudiert. Und streng genommen heißt in die Hände zu klatschen ja noch nicht sprechen. Vielleicht wäre es aber auch absurd, wenn man sich gegenübersitzt und eine Person schallend ihre Begeisterung mit Beifall ausdrückt.
Aber zurück zu den Fragen: Wie lange wird der Blickkontakt dauern? Muss ich mich auf ein Blinzel-Duell gefasst machen? Wie wird die Location gestaltet sein? Wie schick muss man für die Beleuchterbrücke des Kulturpalastes angezogen sein? Und mindestens genauso wichtig: Welche Sitzposition soll ich einnehmen, damit mein Fuß nicht einschläft?
All diese Fragen haben mich glücklicherweise nicht davon abgehalten, ein Ticket beim Organisator der 1:1-Konzerte in der sächsischen Hauptstadt, der Dresdner Philharmonie, zu reservieren. Dazu war die Einzigartigkeit und Einmaligkeit dieser Form des Konzerterlebnisses viel zu reizvoll.

Kurz vor 14:00 treffe ich am Bühneneingang des Kulturpalastes ein. Nach kurzem Warten werde ich von Julia Böttner, die ihr FSJ Kultur bei der Dresdner Philharmonie absolviert, abgeholt. Im Fahrstuhl erklärt sie mir noch einmal die Rahmenbedingungen: Kein Reden und kein Applaus – meine Vorahnung bestätigt sich. Sie erläutert, dass ich am Ende einen Zettel bekommen werde, wo der Name meines Gegenübers und seine gespielten Stücke vermerkt sind. Wir gehen den Gang entlang, meine Schuhe quietschen fürchterlich. Julia versichert mir, dass es nur am Boden auf diesem kurzen Stück ist und behält glücklicherweise Recht. Treppaufwärts geht es zu einer schweren Tür, ich gehe allein hindurch und finde mich auf der Beleuchterbrücke des Konzertsaals des Kulturpalastes wieder. Der Musiker ist bereits anwesend. Ich sehe ihn erst nur von hinten, kann aber schon das Cello erkennen. Es gilt noch ein paar Treppenstufen hinabzugehen, dann nehme ich mich ihm gegenüber, Platz. Ich bin kurz davor, mein Bein überzuschlagen, mit dem Gedanken an den möglicherweise einschlafenden Fuß setze ich es wieder ab. Mein Gegenüber begrüßt mich mit einem herzlichen offenen Lächeln. Es vergehen mehrere Sekunden. Die Taktart? Blickkon-Takt. Allerdings stellt sich dieser Moment weder als unangenehm, peinlich, noch als Blinzel-Duell heraus. Wir schauen uns einfach gegenseitig an, nicht ganz ohne eine gewisse Belustigung.

Er beginnt mit konzentriertem Blick in die Noten, zu spielen. Es ist faszinierend, die Griffe und die Bogenhaltung aus nächster Nähe zu betrachten. Man erhält ein ganz anderes Gefühl für die mit dem Klang verbundene Materialität des Instruments und der vom Künstler aufgebrachten Energie. Wenn man nicht gerade einen Cellisten in der Familie hat oder selbst Unterricht nimmt, erlebt man diese Unmittelbarkeit eher selten.
Trotzdem kann ich nicht umhin, zwischendurch meinen Blick schweifen zu lassen. Wann befindet man sich schon mal auf der Beleuchterbrücke des Kulturpalastes?
Rechts von mir befinden sich Scheinwerfer, dazwischen bietet sich eine Sicht auf den leeren Konzertsaal. Auf den Rangplätzen erkenne ich die Corona-gerecht angebrachten Platzreservierungen. Linkerhand erblicke ich einen Feuerlöscher, über mir Stahlkonstruktionen und schummriges Licht aus Neonröhren. Auf dem Boden ist mit Tape ein Rechteck geklebt, in dem unsere Stühle aufgestellt sind. Ich blicke zurück zu meinem Gegenüber. Er vollendet gerade den letzten Takt seines ersten Stücks. Ich applaudiere mit einem Lächeln und nutze gleichzeitig die Gelegenheit, meine Sitzposition zu optimieren. Beim nächsten Lied frage ich mich, welches wohl sein persönlicher Favorit ist. Ich versuche, meinen eigenen zu küren und kann mich nicht entscheiden. Bevor er zum nächsten Stück kommt, schaut er mich kurz überlegend an und blättert ein paar Seiten weiter. Passt er die Auswahl der Stücke an sein jeweiliges Gegenüber an?
„Du denkst zu viel!“, ermahne ich mich innerlich und konzentriere mich auf den beseelt erhabenen Klang des Cellos. Auch hier oben kann sich die Akustik des Konzertsaals hören lassen.

Zehn Minuten vergehen wahnsinnig schnell. Nach dem letzten Stück und einem finalen Beifall des Lächelns legt er sein Cello zur Seite und nimmt einen Zettel zur Hand. Er raunt: „Ich schreibe auf, welche Stücke ich gespielt habe.“ Als er mir den Zettel übergibt erwidere ich halb im Flüsterton: „Danke“, und hoffe, dass er es auf die gesamten vergangenen zehn Minuten bezieht.

Eine schöne Idee, dass der/ die Musiker*in das Programm handschriftlich vervollständigt. Allerdings wäre es noch schöner, wenn auch die zweite Zeile gender-sensibel gestaltet wäre. – Nur als kleiner Tipp an die Dresdner Philharmonie 😉

Nachdem ich den Konzertraum verlassen habe, schaue ich gespannt auf den Programmzettel. Den Namen meines Gegenübers kann ich aber nicht entziffern. Im Fahrstuhl kann mir Julia aber weiterhelfen: Daniel Thiele hat für mich gespielt.
Das „1to1 Concert“, das ich mit ihm teilen durfte war eine unvergessliche und besondere Erfahrung. Ein Konzerterlebnis mit einer bzw. ganz vielen persönlichen Note(n) und deshalb absolut zu empfehlen.

Auch die sehr reduzierte Form der Kommunikation war für mich gewinnbringend. Ist Lächeln nicht viel persönlicher und ehrlicher als Applaus? Beifall wirkt dagegen unglaublich anonym. Diese Form des Ausdrucks der Anerkennung gewinnt ihre Kraft hauptsächlich durch die Menge der daran teilnehmenden Personen. Beim „1:1 concert“ geht man als Zuschauer*in nicht mehr in der Menge unter, sondern wird selbst angeschaut. Man könnte diese Situation zunächst als Ausgeliefertsein einschätzen, wird nach einer solchen Begegnung aber feststellen, dass sie eigentlich auf etwas mehr Gleichberechtigung beruht.

Gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, was von so einem Konzert bleibt. Sonst gibt es mehrere Zuschauer*innen bzw. oft auch mehrere Mitwirkende vor und hinter der Bühne, die sich an ein Kultur-Event erinnern. Ich bin die einzige Beobachter*in dieser Aufführung. Das ist mit Sicherheit eine interessante Erfahrung, die aber auch aufzeigt, wie sehr Kultur-Erlebnisse auch vom Austausch mit anderen Menschen leben.

Mir bleibt die Erinnerung an einen Nachmittag, an dem ich einem Menschen gegenübersaß, der auch nonverbal (abgesehen von der Erläuterung beim Programmzettelschreiben) nur mit der Musik seine Freude und Hingabe für das Metier ausdrücken kann und anderen damit Momente des Glücks bereitet. Wen er wohl gesehen hat?

nützliche Links:
offizielle Seite der „1to1 Concerts“: http://1to1concerts.de/
Dresdner Philharmonie: https://www.dresdnerphilharmonie.de/1to1_concerts
Notenspur Leipzig: https://notenspur-leipzig.de/projekte-leipzig/1to1-concerts/

2 Kommentare

  1. Wieder ein ganz toller Artikel!! Sehr schön geschrieben – ich habe wieder etwas gelernt – auch cool, dass du durchgängig genderst! 🙂
    Lächeln heißt, man hat bei 1:1 keine Maske auf?
    Eigentlich wollte ich auch schon längst bei dieser Form des Konzerts gewesen sein, aber man schafft ja nicht alles, was man sich vornimmt. Umso schöner, dass ich etwas an deiner unvergesslichen Erfahrung teilhaben konnte. Lieben Dank und Gruß! Dein Justus

    Gefällt 1 Person

    1. Danke für deinen lieben Kommentar, das freut mich sehr!
      Zu deiner Frage: Genau, beim Konzert hat man keine Maske auf. Bei mir war es nur so, dass ich sie beim Weg durch das Haus zur Beleuchterbrücke aufhatte.
      Falls du es doch noch schaffst, dir eins anzuhören, bin ich sehr auf deinen Bericht gespannt!
      LG Lilli

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