Inspririert von Elbmargaritas Artikel „Eine Kindheit in Gorbitz“:
Pappritz – nah genug an der Elbe, um die Dampfer zu hören, aber weit genug oben, um vor dem Hochwasser sicher zu sein. Das hat mich als Kind an meinem im Dresdner Osten gelegenen Heimatdorf wahnsinnig beeindruckt.
Ebenso unglaublich fand ich es, dass der Turm, aus dem das Fernsehen kommt, quasi direkt vor meiner Haustür steht: damals für mich noch der Fernseherturm.
Heute erscheint mir diese Tatsache nicht mehr ganz so unfassbar, sondern eher praktisch. Befindet man sich in Dresden und wird gefragt, wo man ungefähr wohnt, reicht es oft, mit der Hand auf den Hang mit Fernsehturm zu deuten. Auch wenn das markante Bauwerk gerade mal nicht in Sichtweise sein sollte, wissen die meisten Dresdner*innen, wo es etwa zu finden ist.
Oben stand ich jedoch noch nie. Vielleicht ändert sich das aber noch, irgendwann. Bislang musste ich mich mit den Berichten meiner Eltern und Großeltern über die Besuche des Cafés mit Panoramablick begnügen.
Für Ortsunkundige illustriere ich die Antwort auf die Frage nach meinem Wohnort meist mit: „Die Kühe sind nicht weit.“ – Oder mit anderen Worten: „Ja, Dresden ist mit rund 400’000 Einwohner*innen zwar eine relativ große Stadt, aber ich würde mich selbst trotzdem als Dorfkind bezeichnen.“
Dieser Umstand ist mir in den letzten drei Monaten, die ich wegen Corona in meinem Heimatort verbracht habe, noch einmal richtig bewusst geworden.
Besonders entschleunigt zeigt er sich in den Morgenstunden. Dann lässt sich außer einigen Nackt- und Hausschnecken, einem krähenden Hahn und dem ein oder anderen mürrischem Wachhund niemand blicken.
Hin und wieder sehe ich höchstens diesen einen Pappritzer, der an der alten Wasserpumpe am Dorfteich seine Wasserkanister auffüllt. Dann erinnere ich mich daran, wie mein Bruder und ich früher keine Gelegenheit ausgelassen haben, zu testen, wer von uns beiden mehr Wasser hinaufbefördern konnte.

Seit dem 19. Jh. ist Pappritz für seine üppige Kirschernte bekannt geworden und trägt die rote Frucht deshalb auch im Ortswappen.
Aus dieser Tradition heraus verwandelt sich zum alljährlich stattfindenden Kirschenfest die Ruhe im Ortskern in ein zwar immer noch beschauliches, aber buntes Treiben. Zu diesem Anlass wird auch ein Wettkampf der besonderen Art, das Kirschkernweitspucken, ausgetragen. – Oder wurde? Kaum zu glauben, dass man einmal um sich spucken konnte, ohne dass alle panisch davongelaufen sind. Stattdessen wurde gebannt auf die Messergebnisse der zurückgelegten Distanz des auf dem grünen Filzteppich gelandeten Kirschkerns gewartet und anschließend ein*e Gewinner*in gekürt. Eine ebenso beliebte und hart umkämpfte Disziplin ist das Kirschkuchenbacken.
Dieses Jahr wird man die Spuckweiten und Backkünste höchstens familienintern im eigenen Garten messen können.


Manchmal laufe ich zur Agneshöhe, einer über Pappritz hinaus bekannten Aussicht. Dabei komme ich aber nicht umhin, das zugehörige Straßenschild zu hinterfragen. Darauf steht: „Agnes Hottenroth. Ehefrau des Malers Woldemar Hottenroth“. An dieser Stelle muss man nicht erwähnen, dass das kaum nach Emanzipation oder gar Gleichberechtigung klingt. „Warum reproduzieren wir die damaligen Geschlechterverhältnisse auf Straßenschildern?“, frage ich mich. Zu Hause beginne ich, wild zu recherchieren, um weitere Lebensdaten über Agnes zu finden. Auf meine Entschlossenheit folgt aber schon bald Ernüchterung: Abgesehen von einem Porträt in der Galerie Neue Meister, das von ihrem Gatten gemalt wurde, ist nicht viel über diese mysteriöse Frau herauszufinden.
Lässt sich tatsächlich nichts über sie berichten oder stand bzw. steht sie immer nur im Schatten Woldemar Hottenroths?


In all der Idylle war ich damals wohl zu jung, um von den Schattenseiten meines Dorfes etwas zu bemerken. 2006 hat Pappritz als Ort für NPD-Zusammenkünfte besondere Bekanntheit erlangt. Daran, dass die Dorfbewohner*innen aus Protest die Parkmöglichkeiten zugestellt und Protestbanner aufgehängt haben, kann ich mich ebenfalls nicht erinnern. Es breitet sich aber eine gewisse Erleichterung in mir aus, wenn ich von diesen von der Initiaive „Pappritz ist bunt“ eingeleiteten Aktionen im Artikel der Jüdischen Allgemeinen lese.1
Denkt man andererseits an die Reaktionen auf die geplante Eröffnung eines Flüchtlingsheims im ehemaligen Hotel Pappritzer Hof, gibt es dennoch einen bitteren Beigeschmack. Auch 2015 wurden Banner aufgehängt – diesmal aber nicht vereinbar mit meinem Verständnis von Vielfalt.
Im Nachbarschaftstratsch wurden die Ängste vor den fremden Zuzügler*innen ausgetauscht. Mit der Angst vor den neuen Dorfmitbewohner*innen hat sich die Ernüchterung über die Schließung des Gasthofes gemischt.


Das Gebäude stand zwar schon seit längerer Zeit leer, die Einrichtung für Flüchtlinge hat die letzte Hoffnung auf eine Wiedereröffnung jedoch endgültig genommen.
Ich glaube aber, dass es schon vor dem Beschluss für die Unterkunft keine Aussicht mehr darauf gab. Inzwischen, fünf Jahre nach der Eröffnung des Flüchtlingsheims, haben sich die Pappritzer Gemüter aber wieder beruhigt.
Unabhängig von der Art der Umnutzung des Gasthofes reiht er sich beispielhaft in das infrastruktuelle Aussterben dörflicher Gegenden ein. Zuvor wurde in der Kurzen Straße der Blumenladen geschlossen und das Haus des kleinen Alboshops gibt es nicht mehr.
Immerhin hält sich die Bäckerei Caspar wacker und erfreut sich nicht nur bei Pappritzer*innen großer Beliebtheit.
Abgesehen von frischen Backwaren kann man sich dort den Schlüssel abholen, wenn man „auf die Rolle gehen“ möchte. So nennt meine Großmutter zumindest den Gang zur Kaltwäschemangel unseres Ortes. Inzwischen benutzt aber selbst sie diese Gerätschaft nicht mehr.
Die Tür zum Raum der Bügelmaschine öffnet sich mit einem Knarren und ein leicht modriger Geruch steigt mir in die Nase. Mit dem lauten Krachen, das das Wäsche glättende Ungetüm nach dem Füttern mit 50 Cent von sich gibt, kann die Pforte aber nicht mithalten.
In Erinnerungen schwelgend schieße ich ein paar Fotos, bringe den Schlüssel zurück und kaufe mir gleich noch eine Blätterteigtasche mit Quarkfüllung. – Wenn man schon mal da ist…



So Quarktasche essend sinniere ich noch einmal weiter.
Man spricht gerade immer von „vor“ und „nach“ Corona. Mein Vor-Corona-Ich hat nicht damit gerechnet, in näherer Zukunft noch einmal so viel Zeit am Stück im Ort meiner Kindheit und Jugend zu verbringen.
Jedoch bin ich trotz meiner Verbundenheit zur Idylle meines Heimatdorfes froh, wie nah es dann doch an den vielfältigen in der Stadt gebotenen Kulturangeboten liegt.









1 Ralf Hübner (2006): Nazis standen im Regen. Jüdische Allgemeine, https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/nazis-standen-im-regen/